Samstag, 06.02.2010 • 19 Uhr • Ev. Kirche Ihringen
Sonntag, 07.02.2010 • 19 Uhr • St. Martin Freiburg
Miriam Allen, Sopran
Kai Wessel, Altus
Henning Klocke, Tenor
Marcus Niedermeyer, Bariton
Christian Hilz, Bass
Gottfried von der Goltz, Konzertmeister
Leitung: Morten Schuldt-Jensen
1721. Gottfried Lange hat Bauchschmerzen. Er ist Ratsherr und muss seit ein paar Jahren mitansehen, wie seine Leipziger Bürger am Karfreitag kaum noch die Gottesdienste der großen städtischen Kirchen besuchen, sondern in die Neue Kirche strömen. Er wendet sich an das Konsistorium, die kirchliche Aufsichtsbehörde der Stadt. Kann man hier für die Thomas- und Nicolaikirche nicht auch genehmigen, was dort so erfolgreich die Menschen bewegt? Leipzig hält noch für den Frühgottesdienst an einer vierstimmigen Chor-gesangbuch-Version von 1682 fest; in anderen Städten kennt man schon länger diese moderneren Passionen: neu, musikalisch aufwendig, ein wenig gewagt, nicht ohne einen gewissen weltlichen Charme – und vielen viel zu opernhaft: Leipzigs Kirchenobere misstrauten bisher musikalischer Pracht und wollten kein Theater vor dem Altar. Doch sie machen den Weg frei; allerdings darf kein neu gedichteter Passionstext verwendet werden (wie z. B. der bereits beliebte „Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Ster-bende Jesus“ von Barthold Heinrich Brockes); man müsse beim Wortlaut des Evangeliums bleiben. Ein paar abweichende zusätzliche Choräle, Arien und Instrumentalsätze seien aber durchaus genehm. Bisher hatte man in der Thomaskirche beim Vespergottesdienst entweder die 23 Strophen des Liedes „O Mensch bewein dein Sünde groß“ oder die 24 von „Jesu Leiden, Pein und Tod“ gesungen. Als erste Ausnahme wurde nun Johann Kuhnaus Markus-Passion genehmigt.
Zwei Jahre später: Der neue Thomaskantor ist noch frisch im Amt; und obwohl er gerade in dieser ersten Zeit ein heute kaum nachvollziehbares Pensum zu bewältigen hatte (Schulunterricht inklusive Maßregelung, Organisation der Kirchenmusik in der gesam-ten Stadt, dazu die große eigene Familie etc.), lädt sich Johann Sebastian Bach freiwillig noch mehr auf, denn er kann die Gunst der Stunde nutzen: Der Vespergottesdienst am Karfreitag, dem höchsten kirchlichen Feiertag, ist in kürzester Zeit auch zum größten Musikereignis des Jahres geworden. Die Menschen strömen zuhauf in den Gottesdienst, der trotz einstündiger Predigt ganz im Zeichen der Passionsmusik steht. Wo, wenn nicht hier, kann Bach der Öffentlichkeit zeigen, was er kann und will? Dabei kommt ihm die Fastenzeit zugute. In ihr durfte (bis auf eine kleine Ausnahme an Mariae Verkündigung) keine Figuralmusik erklingen; statt dieser komplex gebauten und verzierten Musik waren nur schlichte Kirchenliedkompositionen erwünscht. Damit ist Bach für diese Zeit von der wöchentlichen Pflicht zur Kantatenkomposition befreit. In wahrscheinlich gerade mal diesen sechs Wochen entsteht seine Johannes-Passion. Er nutzt wie befohlen hauptsächlich die biblische Textgrundlage, aber auch freie Dichtung von heute kaum noch bekannten Zeitgenossen wie Brockes, Christian Weise und Christian Heinrich Post. In der Wahl der Choraltexte ist Bach weitgehend frei, hier aber modernisiert er nicht: Bis auf eine Ausnahme sind diese Texte mehr als siebzig Jahre alt.
Dass er es sich dennoch wie so oft beinahe mit seinen Dienstherren verscherzt hat, liegt an seiner Kirchenwahl. Er lässt auf die Ankündigungszettel „Thomaskirche“ drucken, obwohl der übliche, jährliche Wechsel die Nicolaikirche vorsah. Von dieser Regelung nicht informiert gewesen zu sein – wie er vorgab –, scheint kaum glaubhaft bei dem Planungsaufwand für so ein Vorhaben. Vier Tage vor der Aufführung erhält er die Weisung zum Umzug; Bach muss sich mit den nicht ganz so geeigneten Räumlichkeiten zufriedengeben. Die Ankündigungszettel werden nachgedruckt.
Ganz im Sinne des Johannes-Evangeliums stehen Beginn und Ende dieser Passion im Zeichen des „Herrn“, dessen Göttlichkeit hier weit das Menschliche überstrahlt. Johannes berichtet im Vergleich zu den anderen Evangelisten ziemlich gestrafft, lässt vieles weg, z. B. den Judaskuss. Die Kreuzigung ist mehr ein notwendiges und geplantes Übel, dem der Gottessohn selbstsicher entgegensieht. Statt „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ kommt nur der Übergang zum nächsten Tagesordnungspunkt: „es ist voll-bracht“. So bleibt an sich schon wenig Gelegenheit für betrachtende Arien. Zwei besonders zum musikalischen Ausdruck reizende (und so umgesetzte) Textstellen in der Johannes-Passion sind deshalb dem MatthäusEvangelium entlehnt: Das Weinen Petri und das Zerreißen des Vorhangs, der Ausbruch der Naturgewalten nach Jesu Tod. Bach muss in erster Linie den Bibeltext wiedergeben und die gesamte Passion um eine lange Predigt in der Mitte aufbauen. Das im Vergleich zu seinen wöchentlichen Kantaten also engere Formalkorsett scheint ihn besonders zu Experimenten und frischen Ideen ermuntert zu haben. Er nutzt die Möglichkeiten der neuen Gattung und geht sogleich über sie hinaus. Schon der Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ muss 1724 sofort klargemacht haben, dass man hier nicht im Rahmen des Gewohnten bleiben will. Die sonst eher zurückhaltende Musik der Rezitative und Choräle passt Bach außergewöhnlich sorgfältig dem jeweiligen Ausdruck des Textes an, reizt dafür die Möglichkeiten der Harmonik aus.
In den Arien und Chören schließlich zieht er alle musikalischen Register, um die Passion Christi sinnlich erlebbar zu machen. Gerade die kurzen Choreinwürfe der biblischen Menschengruppen (Kriegsknechte, Juden …), die sogenannten Turbae, prägen die Johannes-Passion; sie dienen in ihren Wiederholungen („Jesum von Nazareth“, „Kreuzige ihn“) zusätzlich der Gliederung des Ganzen. Der Text selbst gibt in der Handlung wenig Gelegenheit für Abschweifungen; und so ist auch der musikalische Ablauf stringent und ohne Exkurse. Den Mittelpunkt bildet die Gerichtsszene um einen erhabenen, göttlichen Christus. (In der späteren Matthäus-Passion wird er menschlicher, weniger streng darge-stellt – und deshalb unterstützt dort auch ein Instrumentalsatz seine Rezitative. In der Johannes-Passion begleitet ihn nur das Continuo.) Die Choräle trennen größere Einheiten in der Handlung und kommentieren zusätzlich besondere Momente. Sie sprechen zwar wie üblich aus der Sicht der Gemeinde, übernehmen dabei aber hier manchmal fast den Gestus, den persönlichen Ton einer Arie: „In meinem Herzens Grunde“ ist einem innigen Volkslied nicht mehr fern. Dürfte man es nicht als eine Arie des kleinen Mannes aus dem Volke (und darum von der Gemeinde gesungen) verstehen?
Die Darstellung der Gemütszustände nimmt in der späteren Matthäuspassion noch wesentlich größeren Raum ein. In der Johannes-Passion zählt allerdings zunächst weitgehend das Drama; die Arien dienen deshalb eher dazu, Gedankliches noch einmal aufzugreifen und zu vertiefen. Auch in schrecklichen Momenten stehen dabei letztlich die positiven Aspekte des Ganzen im Vordergrund: „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“ singt der Solo-Sopran ganz ungetrübt, als der verhaftete Jesus abgeführt wird. Und unmittelbar auf den Kreuzestod („Und neigete das Haupt und verschied“) folgt ein fröhlicher Tanz („Mein teurer Heiland, lass dich fragen“). Den Ausdruck verschiedenster Affekte wie Reue und Angst überlässt Bach hingegen hauptsächlich dem Evangelisten, und dies sogar überreichlich. Der Erzähler wird selbst ergriffen und verliert fast den Halt: „Da dachte Petrus an die Worte Jesu … und ging hinaus und weinete bitterlich“ hat Manchen in der Leipziger Kirchenverwaltung sicher nicht nur gerührt, sondern ob der Theatralik auch ein bisschen erzürnt. Am Ende der Passion gibt es gleich einen doppelten Schluss: „Lebt wohl, ihr heiligen Gebeine“, das vorletzte Stück, ist der menschliche Abschied am Grab: in Moll mit einer von Schluchzerwendungen durchtränkten Melodie, die immer wieder nach unten fällt und einen bewegenden Kunstgriff enthält: Der Refrain beginnt liedhaft, teilt sich dann aber in ein mehrstimmiges Gewebe. So kommen sowohl die Masse als auch der Einzelne zu Wort, der sich vor Rührung erst immer wieder fassen muss. Danach folgt wie ein Epilog in Dur die Wendung in die Zukunft („Ach Herr, lass dein lieb Engelein“), der Blick auf die Auferstehung und damit auch der Schritt vom sinnlichen Miterfahren(-müssen) der Passion zum rituellen, liturgischen Abschluss der Musik. Die Gemeinde muss nicht im Regen ihrer Tränen stehen bleiben.
Nach Bachs Tod erwähnt der Nachruf insgesamt fünf Passionen, heute ist neben der Matthäus- nur noch die Johannes-Passion weitgehend erhalten – diese allerdings gleich in mehreren Versionen. Mindestens viermal hat Bach sie zu Lebzeiten aufgeführt. Das bedeutete aber auch jeweils Veränderungen im Text und in den Noten. Ganze Chöre und Arien wurden ersetzt, Rezitative umgeschrieben oder uminstrumentiert – wegen neuer Aufführungsbedingungen, wegen besonderer Wünsche des Konsistoriums etc. Von der ersten Fassung (1724) sind nur Einzelstimmen erhalten. Die zweite Fassung aus dem Jahr 1725 unterscheidet sich am deutlichsten von den anderen. Neue Eingangs- und Schlusschöre sowie drei neue Arien setzen diese Erzählung um einen fadenscheinigen Kriminalprozess mit folgender Hinrichtung in ein noch bedrückenderes Licht, verschieben den Akzent auf das Leiden des Einzelnen – und auf dessen Erlösung. Damit sollte diese Passion vielleicht stärker dem ganzen Kantatenjahrgang angepasst werden. Nachdem er die Matthäus-Passion geschrieben hatte, verzichtete Bach bei folgenden Aufführungen der Johannes-Passion auf jene Abschnitte, die er aus dem Matthäus-Evangelium entlehnt hatte. 1739 unternahm er schließlich den Versuch einer sorgfältigen, endgültigen Partitur, brach aber nach 21 Seiten ab. Danach hat ein Kopist den unveränderten Notentext von 1724 einfach angefügt. Als 1749, ein Jahr vor Bachs Tod, wieder eine Aufführung anstand, wurde allerdings dieser überarbeitete Teil nicht berücksichtigt, sondern direkt die allererste Version von 1724 gespielt, diesmal deutlich aufinstrumentiert und mit einer längeren Passage, die das Zerreißen des Vorhangs im Tempel beschreibt; außerdem sind teilweise die Texte verändert. Ob Bach auch nach dieser Aufführung die Anpassungen wieder zurückgenommen hätte, muss ungeklärt bleiben. Er schien jedenfalls immer wieder zu seiner allerersten Version zurückkehren zu wollen.
Jens Berger